Story
Custom-Type-Designer kennen es: Ihre Auftraggeberinnen und Auftraggeber möchten Neues, Eigenständiges. Die Euphorie ist groß für eine exklusive Schrift, mit der man sich von der Konkurrenz abheben kann.
Schnell stellt sich jedoch heraus, dass es wieder „nur“ die eigene Version einer statischen Serifenlosen im Stile einer Helvetica® oder Akzidenz Grotesk® werden soll.
Auch Erik Spiekermann, Anja Meiners und Ralph du Carrois kennen Briefings dieser Art und so fanden sie sich regelmäßig an einer Variation der omnipräsenten Neo-Grotesk wieder. Ihr Anspruch war es jedoch jeweils, die Klassiker gegen deutlich bessere Entwürfe zu ersetzen – mit weiterhin zeitlosen, aber zukunftsweisenden Alternativen, die dem einfachen zu Grunde liegenden Design mit überraschenden, teilweise experimentellen Nuancen zu mehr Charakter verhelfen.
Neutralität mit Wiedererkennungswert
Die Case ist die Essenz aus diesen Corporate-Font-Projekten. Alles, was sie am Genre der populärsten Schriftarten der Welt für verzichtbar halten, ließen sie weg. Alles, was sie daran lieben, ist drin. Diesem Konzentrat fügten sie neue Ideen und konzeptionelle Lösungen für eine moderne Sans-Serif hinzu.
So entstand das fehlende Element einer strapazierten Fontkategorie: eine Schrift, deren sachlich-konstruierter Grundcharakter Vertrauen schafft, mit cleveren Features aber frische Impulse setzt und damit wie geschaffen ist für eine starke Markenbildung. Die Case ist weniger neutral als ihre Artgenossen und hebt sich mit einer höheren Wiedererkennbarkeit von ihnen ab.
Betonung auf Horizontale
Die prägendste Eigenschaft der Case spiegelt sich schon im Namen wider. Er leitet sich aus der systematischen Besonderheit ab, Zeichen wie c, a, s, e und ihrer Artverwandten auf gleicher Höhe abzuschließen; Großbuchstaben, Kapitälchen und Unicase-Zeichen auf jeweils eigener Höhe inbegriffen. Die Designentscheidung betont die Horizontale, forciert beinahe zwanghaft die Harmonie und ermöglicht eine extrem enge Zurichtung und experimentelle Anwendungen.
Mit zunehmender Strichstärke wird diese Eigenheit dominanter, bis hin zur ExtraBlack, die sie kompromisslos auf die Spitze treibt. Hierdurch kehrt sich die Harmonie vorsätzlich ins Gegenteil um, denn so lassen sich Logos, Wortmarken und Headlines prägnanter gestalten. Da der Name einer Schrift bereits ihren Charakter vorstellen sollte und ohnehin fast alle von Erik Spiekermann (mit)gestalteten Fonts mit vier Buchstaben auskommen, ergab sich die Namensgebung fast von selbst.
Leserlichkeit für mehr Barrierefreiheit
Eine weitere Stärke der Case ist eine für statische Grotesks bemerkenswerte Leserlichkeit. Die verdankt sie vor allem ihren drei optischen Größen: die Kernfamilie für die Mehrzahl der Anwendungsfälle, insbesondere größeren Gebrauch, die Case Text für umfangreicheren Content und die Case Micro für klein gesetzte Textbereiche. Je nach Einsatzbereich kann man mit ihr noch eine gute Leserlichkeit bei 4pt Schriftgröße garantieren, in manchen Fällen funktioniert die Micro sogar noch unter diesem Wert.
Das Geheimnis optischer Größen liegt einerseits in der Möglichkeit, einzelne Zeichen leserlicher zu gestalten, andererseits kann der gewünschte visuelle Eindruck einer Schrift über alle Schriftgrößen hinweg gewahrt werden. Die Wirkung in einer Überschrift ist dann identisch mit der einer Fußnote. Im Besonderen profitieren von dieser Anpassungsfähigkeit digitale Umgebungen, in denen Schriftgrößen und -stile nicht – wie beim Druck – eindeutig festgelegt werden, sondern auf kleinen Smartphones oder großen Displays betrachtet unterschiedlich (responsiv) dargestellt werden können.
Im Falle der Case liegen die Unterschiede der drei Familienmitglieder in der Laufweite. Im Vergleich ist die Zurichtung der normalen Case eng, die der Text hingegen weiter und der Micro am weitesten. Weiterhin unterscheiden sich Case Text und Case Micro zugunsten der besseren Lesbarkeit zu ihrer großen Schwester im „l mit Schniepel“ (Spiekermann-Terminologie) und in offeneren Formen. Die Micro besitzt zusätzlich eine höhere x-Höhe, unterscheidbarere Zeichenformen (r, i, j) bzw. breitere Glyphen (f, t), sowie deutliche Kontraste in den Zusammenflüssen von Stamm und Bogen.
Auffallend oft waren diese prägnanten Formen bislang der Anlass, den Zweck der Micro zu entfremden und sie groß auf Plakaten oder Bannern einzusetzen (z.B. hier). Hier wird die Flexibilität des Schriftsystems an unerwarteter Stelle unterstrichen.
Echte Kursive repräsentieren Markenwerte
Ein Alleinstellungsmerkmal stellen die echten Kursiven dar. Die sind in solch prägnanter Form rar im Genre der Neo-Grotesks. Üblicherweise geben sich Typedesignerinnen und -designer hier mit Obliques zufrieden, lediglich schräggestellten und nicht eigens entworfenen Italics. Ihr Vorteil: Viele gebräuchliche Markenwerte können durch dieses beinahe organische Design vermittelt werden, z.B. optimistisch, menschlich, lebendig, transparent, freundlich, unverwechselbar, kreativ, harmonisch oder elegant. Auch der Neigungswinkel unterstützt das Vertrauen in die Marke, da er dem der bekannten Klassiker Helvetica®, Univers® oder Akzidenz Grotesk® entspricht (12°).
Ebenso verdienen die Variable-Fonts Beachtung, die zwischen den Strichstärken und drei optischen Größen oszillieren. Je einen aufrechten und kursiven Variable-Font gibt es inklusive im Superfamily-Paket, ohne Extra-Kosten. Anwendern und Anwenderinnen mit politisch korrektem Anspruch wird außerdem das via OpenType-Stylistic-Set aktivierbare Gendersternchen gefallen, welches sich harmonischer als der übliche Asterisk ins Schriftbild einfügt.
Case 2.0: Verdoppelung der Designoptionen und Komplettierung des europäischen Sprachsupports
Mit dem üppigen Update im Frühjahr 2023 hat sich die Zahl der Einzelschnitte im Vergleich zur ersten Version von 32 auf 72 mehr als verdoppelt. Das seit ihrem Release im Oktober 2020 eingegangene Kunden-Feedback bewog uns dazu, insbesondere die Text- und Micro- an den Umfang der Kernfamilie und die x-Höhe der Case Text an die der normalen Case anzugleichen.
Die Harmonisierung umfasst obendrein feiner abgestufte Zwischengewichte (neu: SemiLight, SemiBold, ExtraBold), das neu gezeichnete ExtraBlack-Extrem sowie dezente Anpassungen bestehender Strichstärken. Die Spannbreite von einer dünnstmöglichen Hairline (2 Einheiten!) zu jener kompromisslosen Fetten setzt neue kreative Kräfte frei, nicht zuletzt mithilfe der alles umfassenden Variable-Fonts.
Darüber hinaus wurde auch der Zeichenumfang verdoppelt. Hinter diesem enormen Zuwachs stecken der nun verfügbare kyrillische, griechische und vietnamesische Sprachsupport, die Unterstützung lateinischer Sprachen Afrikas sowie das neue UniCASE-Feature.
Wenngleich die Idee zur Kombination von Groß- und Kleinbuchstabenformen mit gleicher Buchstabenhöhe und ohne Ober- und Unterlängen zunächst als Spaß aus der sich aufdrängenden Wortspielerei heraus entstand, blühte das Design- und Engineeringteam schnell beim Gestalten und das Marketingteam später beim Anwenden dieser typografischen Besonderheit auf. Um die Großfamilie überschaubar zu halten, wurde diese Designoption als OpenType-Feature integriert (Stylistic Set 2).
Die Fülle der weitreichenden Überarbeitungen und Erweiterungen ergeben eine neue, nicht rückwärts kompatible Version der Schrift, die selbstbewusst mit den stetig wachsenden Anforderungen komplexer Branding-Projekte Schritt halten kann. Damit beweist sie für das Genre eine außergewöhnliche Vielseitigkeit. Sollte die noch immer nicht genügen – kein Problem, aufgrund des klaren, neutralen Designs bietet die Case die perfekte Grundlage für individuelle Anpassungen.
(Helvetica und Univers sind eingetragene Warenzeichen von Monotype. Akzidenz-Grotesk ist ein eingetragenes Warenzeichen von Berthold Types Limited. Sofern nicht anders angegeben unterliegen die verwendeten Fotos den Lizenzbestimmungen von Unsplash.)