Story
Am 11. März 2008 stellt der Regierende Bürgermeister von Berlin die neue Stadt-Marketing-Kampagne „Be Berlin“ vor. Sie soll die vielfältigen Facetten der Hauptstadt regional, national und international bekannt machen, um mehr Unternehmen und Besucher in die Stadt zu locken.
Die treibende Kraft der Kampagne sind wechselnde Dreizeiler, gesetzt in der eigens entworfenen Schrift „Change“. Ihr Name ist Programm: Berlin ist im Wandel, und das soll die Welt wissen. 12 Jahre diente die Change der Stadt als Markenschrift. Jetzt darf sie ihr Potenzial – optimiert und erweitert – zugunsten aller zu erneuernden Marken und Projekte endlich richtig entfalten.
Zum Start der Imagekampagne investierte der Senat 11 Millionen Euro, um die Devise „Sei Berlin“ in der Region zu etablieren und die Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit ihrer Stadt zu verbessern. Ab 2009 wurde dann deutschlandweit und danach in 50 verschiedenen Ländern für „Be Berlin“ getrommelt.
Wie bei groß angelegten Marketingkampagnen in Deutschland üblich, wurde auch die Hauptstadt-Werbung von Nörgelei begleitet. Das Meinungsforschungsinstitut Forsa glaubte zu wissen, dass das Motto von den Berlinerinnen und Berlinern nicht angenommen werde, weil sie es nicht verstünden. Dem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit wurde der Negativpreis „Sprachpanscher des Jahres“ zuteil. Agenturen reichten Klagen ein – vom Plagiatsvorwurf bis zum Verdacht auf Vetternwirtschaft. Der Bund der Steuerzahler attestierte der Kampagne in seinem Schwarzbuch 2008 die „Verschwendung von Steuergeldern“.
Tatsächlich blieb „Be Berlin“ bis zum Jahr 2020 der offizielle Slogan der Hauptstadt. Die Nachfolgekampagne und ihr Motto „Wir sind ein Berlin“ ist auch nach zwei Jahren nicht in der Stadt angekommen, was zeigt, dass bei „Be Berlin“ vieles richtig lief. Kein Wunder, denn die Initiative wurde von Top-Agenturen begleitet Embassy, Fuenfwerken, WE DO communication u. a.), von engagierten lokalen Institutionen getragen Berlin Partner, Goethe-Institut, IHK Berlin …) und von potenten Unternehmen mitfinanziert (Bayer, Pfizer, BMW, Siemens …).
Noch deutlicher sprechen die Wirtschaftszahlen für den Erfolg der Kampagne. Von 2008 bis 2019 stieg die Zahl der Übernachtungen in Berlin von 17,8 auf 34,1 Millionen (+ 92 Prozent, nahezu eine Verdopplung). Die Anzahl der steuerpflichtigen Unternehmen stieg im selben Zeitraum von 133 Tausend auf 168 Tausend (+ 28 Prozent). Das Bruttoinlandsprodukt der Stadt stieg von 99 Milliarden Euro auf 157 Milliarden (+ 59 Prozent). Und die Bevölkerung der Stadt wuchs innerhalb der zwölf Kampagnenjahre von 3,43 Millionen auf 3,67 Millionen (+ 7 Prozent).
Berlin wird heute national und international als attraktiver Wirtschaftsstandort wahrgenommen. Das Image der Stadt zieht Talente, Unternehmerinnen und Investoren an – aus Deutschland, aus Europa, aus der ganzen Welt. Die Hauptstadt-Startups erhielten im Jahr 2019 bei 262 Finanzierungsrunden 3,69 Milliarden Euro. Damit konnte Berlin erneut den Titel als Deutschlands Startup-Hauptstadt verteidigen, denn drei von fünf in Start-ups investierte Euro landen hier.
Der entscheidende Moment bei der Sei-Berlin-Kampagne war, dass nicht die Stadt Berlin in den Mittelpunkt gerückt wurde, sondern die Menschen und ihre vielfältigen Lebensentwürfe. Hierfür entwickelte Embassy die Sprechblase als visuellen Rahmen, mit einer dreizeiligen Typografie im Zentrum. Während der Launch-Phase texteten Promis wie der Sternekoch Tim Raue oder die Schülerinnen und Schüler der engagierten Rütli-Schule die Sprechblase, später steuerten die Bürgerinnen und Bürger ihre Ideen bei.
Ihr unverwechselbares Profil bekam die Berlin-Kampagne durch eine eigens entwickelte Schrift. Hierfür verpflichtete Fuenfwerken den erfahrenen Typedesigner Alessio Leonardi. Bereits seine ersten Entwürfe enthielten die unverwechselbaren Merkmale der späteren Großfamilie: die starke horizontale Betonung, gebogene Diagonalen in ausgewählten Buchstaben, gebrochene Stämme bei den Kursiven sowie das kontrastreiche Zusammenspiel von eckigen und runden Elementen.
beschreibt Alessio Leonardi heute im Rückblick das Temperament seiner Schrift.
Der Name für die Berlin-Schrift ergab sich fast automatisch. „Change“ bezieht sich sowohl auf den Wandel einer vitalen Großstadt, als auch auf die visuellen Merkmale der Schrift. Alessio Leonardi: „Die Buchstaben sind nicht statisch, trotzdem ergeben sie ein ruhiges Textbild. Change ist unkonventionell, hat viele eigenartige Details, wirkt aber sofort vertraut. Sie ist nicht perfekt, so wie eine lebendige Stadt nie perfekt ist. Change ist offen für das Neue, sie verkörpert Veränderung und ist selbst Teil der Veränderung.“
Eine besondere Bedeutung kommt dem Ursprungsentwurf Change Letter zu, mit dem die Berlin-Kampagne an den Start ging. Mit ihrem kontrastreichen Wechselspiel von Härte und Feinheit verleiht sie Texten und Headlines Nachdruck und Profil. Die konisch geformten Abstriche und die gewinkelten Diagonalen bei den Buchstaben A, M, V, W, v und w machen sie unverwechselbar. Ihr mit Slab-Serifen angereicherter Schreibmaschinen-Look trägt die dreizeiligen Kernaussagen der Kampagne und wird zum Setzkasten für alle Berlinerinnen und Berliner. Mit drei fixen Buchstabenbreiten verortet sie sich zwischen Monospace- und proportionalen Schriften und lässt mit ihr gesetzte Typografie stark und selbstbewusst erscheinen.
Der Wunsch des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, die Kampagnentypografie auf die allgemeine Kommunikation der Stadt zu übertragen, führte ein Jahr später zur Entwicklung von Change Sans, einer zweiten, etwas neutraler anmutenden Schriftfamilie, aber mit der gleichen Ausstattung wie die Letter: Regular, Bold, Italic und Bold Italic. 2010 wurde sie mit leichteren und kräftigeren Schnitten erweitert. Noch mal ihr Entwerfer: „Die Change Sans wurde für längere Texte entwickelt, mit proportionalen Breiten, der Grundschnitt etwas leichter und schmal laufend. Dies verleiht Texten einen angenehmen Grauwert für besseres Lesen und erhöht den Kontrast zwischen Regular und Bold. Auch die Kursive ist kontrastreich. Einige vertikale Stäbe sind gebogen. Die Neigung von 11° macht sie schnell und rhythmisch.“
Ein weiteres außergewöhnliches Feature ist die mit wachsender Strichstärke reduzierte Laufweite. Das bedeutet, ein fetter Schnitt wie ExtraBold nimmt weniger Platz ein als ein dünner Schnitt wie Light. Gleichzeitig wird ein harmonischerer Weißraum der Buchstabeninnenräume und -abstände erzielt.
Als Berliner Foundry war es uns ein Bedürfnis, gemeinsam mit Alessio Leonardi dieses besondere Stück regionaler Schriftkultur umfassend zu überarbeiten und zu erweitern, um es endlich Designerinnen und Designern weltweit zur Verfügung zu stellen. Im eher starren behördlichen Gestaltungsumfeld wurde das Potential der Change zu keiner Zeit ausgeschöpft. Jetzt darf sie aller Welt zeigen, was sie kann.
Der Fokus unserer Optimierung lag zunächst auf der Change-(Sans-)Familie, für die wir die Anzahl der Strichstärken von fünf auf elf erweiterten, noch besser aufeinander abstimmten und mit neuen Extremen zugunsten einer größerem Flexibilität an die Grenzen der Formen gingen: Hairline, Thin, ExtraLight, Light, Regular, Medium, SemiBold, Bold, ExtraBold, Black, ExtraBlack. Um den Weißraum der Punzen und um die Buchstaben präzise zu kontrollieren, bauten wir die gesamte Familie auf der Basis von drei Mastern mit modernen Tools und unter Berücksichtigung gestiegener Ansprüche neu auf. Mit dem erstmals zur Verfügung stehenden Variable-Font lassen sich sämtliche Nuancen an zusätzlichen Strichstärken zwischen den Extremen Hairline und ExtraBlack einstellen.
Auch der Zeichenvorrat der Change wurde im Rahmen ihrer Neugeburt vergrößert. Das betrifft auch die Glyphen für die nicht-lateinischen Sprachen, die von Amélie Bonet (Kyrillisch und Griechisch) und Donny Truong (Vietnamesisch) geprüft und getestet wurden. Schließlich erweitern Kapitälchen in allen Schnitten die typografische Vielfalt. Wir planen, der Change Letter zu einem späteren Zeitpunkt die selbe Behandlung zukommen zu lassen und die Familie mit einer komplett neuen Monospace-Variante sowie Piktogramm-Fonts zu bereichern. Letztere sind bereits vereinzelt auf unserer Website fontwerk.com im Einsatz.
Wir sind außergewöhnlich gespannt darauf, zu beobachten, welche Früchte der Samen dieser Berliner Pflanze in anderen Teilen der Erde gedeihen lassen wird.