Im Sommer 2024 machte der Entwerfer der Tausend, Christoph Koeberlin, seinen Mitstreiter Gabriel Richter auf einen Text von Dan Reynolds zur Geschichte der Akzidenz-Grotesk aufmerksam. Reynolds weist nach, dass die Schattierte Grotesk der Schriftgießerei Bauer & Co. aus dem Jahr 1895 mehr als ein dekorativer Ableger war. Tatsächlich kann sie als der Ursprung jener Form betrachtet werden, aus der die Berthold AG – kurz nach der Übernahme von Bauer – die Akzidenz-Grotesk entwickelte. Reynolds: „Wenn man den Schlagschatten der Buchstaben von Schattierte Grotesk entfernt, ergeben sich eindeutig die Formen der Akzidenz-Grotesk.“
Tausend Shaded
Im Schatten liegt die Form
Wenn man den Schlagschatten der Buchstaben von Schattierte Grotesk entfernt, ergeben sich eindeutig die Formen der Akzidenz-Grotesk.
Christophs Reaktion: Neugier, Faszination und eine Idee, die sofort zündete. „Warum nicht die früheste Spielart der Akzidenz-Grotesk wiederbeleben, mit zwei, drei Shaded-Schnitten?“ Die Grundform war bereits da: Tausend, eine zeitgemäße, systematisch entwickelte Grotesk mit einem Hauch Bauhaus. Diese um eine Variante zu bereichern, sollte kein Problem sein.
Anfang der 1980er Jahre beschäftigte sich Günter Gerhard Lange, der künstlerische Leiter der Berthold AG, noch einmal intensiv mit der Original-Akzidenz-Grotesk. Er entwickelte eine Neubearbeitung, die 1984 unter dem Namen AG Old Face erschien und sich – nach Herstellerangaben – stärker an die frühe Akzidenz-Grotesk anlehnte. Sie hatte nur drei Strichstärken, keine Kursive aber dafür den Schnitt AG Old Face Shaded, was erneut die bedeutende Rolle dieser Stilart unterstreicht.
Gabriel Richter, der sich selbst augenzwinkernd „alter Systematiker“ nennt, übernahm den Ausbau von Tausend Shaded. Seine Mission: eine konsistente Schattenschrift auf Basis der Tausend – und das über mehrere Strichstärken hinweg. Klingt einfach, war es aber nicht.
Die erste Herausforderung: Mit wachsender Strichstärke schrumpft der Raum für die Schattierung. Wo bei Light noch viel Luft ist, wird es bei Black ganz eng. In einem ersten Test wurde dem Kleinbuchstaben a in Black ein Schatten umgelegt.
„Wie tief, wie weit, wie luftig darf ein Schatten sein im Schriftdesign?“, fragte sich Gabriel und fand für sich die Antwort: Das Auge entscheidet! Die Reaktion von Christoph auf den Erstentwurf: „Sehr schick! Aber ich glaube, wir sollten tendenziell etwas mehr Abstand geben. Und das eigentlich Knifflige wird wohl sein, dass die Linie nirgends die Basis-Outline berührt!“ Tatsächlich wird es noch viel heftiger kommen: Bei kritischen Buchstaben überspringt die Outline ihren eigenen Schatten … nachdem es die beiden Designer zuvor gemacht hatten.
In mehreren Testrunden loteten die Designer den idealen Abstand, die Kurvenführung und die Parallelität aus.
Schnell wurde klar: Ein statisches System funktioniert nicht. Die Lösung: Eine Schattierung, die sich organisch anpasst – je nach Zeichen, Kurven und Strichstärke. Gabriel: „Die Tiefe variiert, wie bei der Ausgangsschrift: Eher manuell als mathematisch.“
Inzwischen genügte ihnen die ursprüngliche Idee von „zwei bis drei Schnitten“ jedoch nicht mehr. Sie hatten sich längst festgebissen an dem Plan, eine komplette Subfamilie zu entwickeln.
Nach einigen Wochen Entwicklung offenbarte der Blick ins Innenleben von Tausend Shaded eine Tüftlerarbeit sondergleichen:
- Jedes a, e und s musste in allen Schnitten individuell bearbeitet werden.
- Akzente wurden in den fetteren Schnitten leicht nach oben versetzt, anstatt sie zu stauchen.
- Die Schatten laufen nicht einfach nebenher, nein: Sie werden bewusst geführt, geformt, angepasst, verengt und sogar von der Kontur übersprungen.
- Viele Zeichen – vor allem mit Diakritika – erforderten komplexe, eigene Schattenformen.
Gabriel selbstironisch: „Wie schön, dass herkömmliche Komponenten nicht mehr zusammenpassen.“ Nur ein Beispiel: Der Buchstabe ą ist in der Original-Tausend eine Kombination aus a und ˛ … In der Shaded funktioniert das nicht; hier braucht es einen eigenen, manuell angelegten Übergangsschatten.
Tausend Shaded ist keine Gimmick-Schrift. Sie ist ein Statement für handwerkliche Sorgfalt und gegen die algorithmische Beliebigkeit, die viele Display-Schriften seit Jahrzehnten prägt.
Die Schattenform ist nicht das Ergebnis eines geometrischen Filters, sondern individueller Designentscheidungen – für jedes Zeichen in jeder Strichstärke. Alle Übergänge sind gezeichnet, nicht generiert. Jede Kurve ist gedacht, nicht interpoliert.
Die „Schattierte Grotesk“ von 1895 war ein dekorativer Vorläufer der späteren Akzidenz-Grotesk. Tausend Shaded greift diese Idee auf – nicht als Imitation, sondern als rekursive Transformation. Sie trägt den Geist von damals, aber sie denkt ihn weiter.
Tausend Shaded beweist, dass Schatten nicht immer für Verdunkelung steht, sondern das Gegenteil bewirken kann: Er macht sichtbar, was eine Schrift im Innersten zusammenhält.
Das Beste zum Schluss (Danke fürs Zu-Ende-Lesen): Als Basislizenz gibt es die Tausend Shaded kostenlos (1 Desktop-User, 10.000 Web-Pageviews, 10.000 Social-Media-Follower).
Akzidenz-Grotesk, AG Old Face und Berthold sind eingetragene Warenzeichen von Monotype Imaging Inc.