Story
Romaine ist eine behutsam interpretierte Digitalisierung der Ascendonica von Robert Granjon aus dem Jahr 1570. Trotz ihres hohen Alters macht sie eine ausgesprochen gute Figur. Kein Wunder.
Ihre Existenz verdankt sie nämlich einer ganz aktuellen Herausforderung. Über die Geschichte einer Schrift, die zwar uralt, aber dennoch unerhört modern ist.
Unlängst erhielt Aad van Dommelen einen Auftrag zur Gestaltung einer Corporate-Identity. Eine Bedingung war, einen flämischen Buchstaben aus der Zeit des Barocks zu verwenden. Obwohl Christoph Plantin nicht im 17. Jahrhundert lebte, kam ihm sofort jener bedeutende Buchdrucker und dessen gleichnamige Schrift in den Sinn. Sie war allerdings nicht das, was dem Auftraggeber vorschwebte. Ebenso wenig die alternativ vorgeschlagene DTL VandenKeere.
Einzig die Buchstaben des nicht minder bedeutenden Schriftenschneiders Robert Granjon (1513–1590) entsprachen den Vorstellungen des Gegenübers. Das Problem: die vorhandene Digitalisierung von Linotype wich zu sehr vom Original ab und wies einige Inkonsistenzen auf. Die alten Vorlagen neu zu digitalisieren schien die beste Lösung zu sein.
Aad van Dommelens erste Versuche hierzu basierten auf Fotos von gedruckten Plantin-Büchern. Allerdings wurden darin einerseits nicht alle Zeichen verwendet, andererseits hegte er Zweifel an der Qualität des sich ihm dargebotenen Schriftdesigns. Er wollte der Intention des Entwerfers so nah wie möglich kommen. Dafür musste er näher an den Ursprung der Schrift: zum Plantin-Moretus-Museum in Antwerpen, in dem noch heute einige Originalstempel und -matrizen aufbewahrt werden.
Das Museum gab van Dommelen Zugriff auf Rußabzüge der Schrift von Granjon. Diese mit dem Ruß einer Kerze direkt am Arbeitsplatz des Schriftschneiders gemachten Testdrucke dienten dem Entwerfer – damals noch ein und die selbe Person – zur Überprüfung, ob der Entwurf richtig umgesetzt wurde. Ein solcher Rußabdruck kann sowohl Zwischenstufen der Arbeit als auch finale Varianten abbilden. In diesem Fall hatte Aad van Dommelen natürlich finale Versionen zur Verfügung, das nach der Zeichnung getreueste Abbild, denn sie wurden vom Museum selbst angefertigt.
Geht man bei der Digitalisierung von den Prägestempeln aus, kann die eigentliche Intention des Schriftentwerfers verfehlt werden. Es kam beispielsweise vor, dass die Stempel bewusst dünner geschnitten wurden, um im Druck dann durch Zulaufen der Farbe gemäß der Absicht des Entwerfers wiedergegeben zu werden.
Die Qualität und Details der Rußabzüge waren außergewöhnlich. Besonders die der Ascendonica Romaine/Parangonne (Bezeichnungen für die geschnittenen Schriftgrößen, ± 20 pt) aus dem Plantin-Katalog Nummer MA 8. Die als Vorlage dienende Schriftgröße ist ausschlaggebend für das Design, denn jede Größe wurde separat gestaltet und geschnitten. Jede Digitalisierung ist zudem eine eigene Interpretation des Interpretierenden. So gibt es mittlerweile viele Garamonds, aber keine gleicht der anderen. Auch zwei relevante Digitalisierungen der Granjon Ascendonica sind erhältlich. Die angesprochene Granjon LT sowie Matthew Carters ITC Galliard. Völlig zu Recht ist Carters Version sehr beliebt und verbreitet, jedoch erlaubte er sich deutlich mehr Freiheiten, insbesondere bei der Italic.
Die feinen Details der Vorlage führten zu einer Besonderheit der Romaine. Während alle anderen digitalen Garamonds oder Granjons abgerundete oder abgeschnittene Serifen haben, besitzt die Romaine spitze Enden. Aad van Dommelen ging nämlich davon aus, dass Granjon sie lediglich aufgrund physikalischer Beschränkungen abrundete. Aus dem gleichen Grund verzichtete er außerdem auf die Wölbung an den Füßen. Im Druck heben diese sich leicht von der Grundlinie ab. Für ihn schien klar, dass diese Kurve lediglich dazu dienen sollte, durch Quetschränder entstehende unschöne Beulen nach unten zu verhindern und annähernd gerade Füße zu erzeugen.
Die akkurate Digitalisierung der Rußabdrucke begeisterte van Dommelen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Granjon eine andere als diese ansprechende und klare Form beabsichtigt hatte. Er war selbst überrascht, wie frisch und modern seine gewissenhafte Interpretation erschien.
Lediglich einigen wenigen Elementen der Schrift sieht man ihr wahres Alter an. Der Abschluss eines modernen j schaut mittlerweile in die entgegengesetzte Richtung als es das j der kursiven Ascendonica tut und auch der Pelikanschnabel des kursiven g ist unüblich (daher auch als Alternativform verfügbar). Die kursive Tilde ist heute gar gänzlich unbekannt. Natürlich behielt van Dommelen als Remineszenz an den alten Meister solch mittlerweile nicht mehr gebräuchliche Elemente als Alternativzeichen bei. Zudem kann man alte Texte in der ursprünglichen Form setzen, beispielsweise mit lang-s. Spannender sind natürlich die weiterhin gültigen Zeichen sowie moderne Ergänzungen: über 20 Ligaturen, Versal- und Tabellenziffern in zwei Größen, Versal-ẞ, 14 Währungssymbole (inkl. Bitcoin), Swashes, Ornamente (Fleuronné) und vieles mehr.
Weil die eigentlichen Kapitälchen recht klein und die Versalien im Gegensatz recht mächtig sind, zeichnete Aad van Dommelen einen separaten Satz Small Caps. Dieser steht nun per Default zur Verfügung, kann aber auch als etwas kleineres Versalienset verwendet werden. Die ursprünglichen Kapitälchen sind via OpenType als Petite Caps anwendbar (Small-Caps-Feature + Stylistic Set 1).
Granjon selbst sah keinen Bold-Schnitt oder gar eine Bold Italic vor, denn damals hatten Schriften schlichtweg keine verschiedenen Strichstärken. Bei Bedarf, z.B. Überschriften, wurde mit anderen Schriften kombiniert. Daher stellen Romaine Bold und Bold Italic van Dommelens eigene Schöpfung dar, gestaltet im Geiste seines Vorbildes.
Die primäre Form unserer heutigen Schrift verdanken wir den Arbeiten von Arnold Pannartz, Konrad Sweynheim, Nicolas Jenson und Aldus Manutius im Italien des 15. Jahrhunderts. Perfektioniert wurde sie aber von französischen Schriftschneidern des 16. Jahrhunderts wie Simon de Colines, Claude Garamont, Pierre Haultin und eben Robert Granjon, zweifelsfrei einer der größten Schriftenschneider der Geschichte. Ihre Idee von Schriftdesign war so gut, dass seit Jahrhunderten niemand wagt, sie zu verändern.
Granjon mag zwar besonders für seine wunderschönen, etwas extravaganteren Kursivschnitte bekannt sein, seine Aufrechten sind aber ebenso herausragend. Sie weisen neben handwerklichem Können deutlich mehr Klarheit, Reinheit und Neutralität auf. Während man bei Garamont noch eher meint, einen persönlichen Stil ausmachen zu können, strebte Granjon nach der ultimativen Form. Das macht seine Schrift so zeitlos und bis heute zum Vorbild zeitgenössischer Typen. Vielleicht mehr noch als beim bekannteren Garamont, dessen Schriften wiederum Vorlage für Granjon waren. Romaine beweist, dass seine Form noch heute ausgesprochen modern ist.
Die Romaine hat alles, was heute von einer Schrift verlangt wird. Sie ist sehr leserlich, unaufdringlich, belastbar und eignet sich besonders für umfangreiche Texte. Damit ist sie vor allem im klassischen Buch- und Editorialdesign heimisch. Ihre Ursprungsgeschichte belegt allerdings auch ihre Eignung für Corporate-Design-Projekte, für Logos oder hochwertiges Packagingdesign. Bekannteren Garalde-Schriften wie Garamond, Sabon, Bembo, Arno, Minion oder Times steht sie in nichts nach. Ihr großer Zeichenumfang, ihr neutraleres Erscheinungsbild und ihre höhere Authenzität machen sie oft gar zur besseren Wahl. Ihre Partner sind unzählige seriöse Serifenlose, beispielsweise die Ika oder FF Aad.
In diesem Sinne: auf die nächsten 450!